Δευτέρα 12 Νοεμβρίου 2012

Iannis Xenakis: Komponist Zwischen Logos und Klangmagie

Ein Portrait zum 10. Todestag des bahnbrechenden Musikers, Ingenieurs und Mathematikers (4.2.2011)

Iannis Xenakis 1984Klangbeispiel (8,1 MB, Dauer 8.42")

Ouvertüre im Internet

Das Wort „Pop“ hat etwas zu tun mit „populär“ und „weit verbreitet“. Pop wird durch die Kulturindustrie und die Massenmedien gemacht und gewinnt seine Eigendynamik in den sozialen Netzwerken wie Facebook oder YouTube, wo die Trends weltweit diskutiert und verstärkt werden. Je höher die Klickrate, desto begründeter der Pop-Verdacht. Identifikationsfiguren wandeln sich zu Medien-Ikonen, zu sogenannten Legenden und Mythen, Vorbilder jedweder Art werden von den Mediennutzern als tägliche Begleiter adoptiert. Pop sind deshalb heute nicht nur die Beatles und Lady Gaga, sondern auch Einstein, Schlingensief und Stockhausen. Ist auch Xenakis Pop?
Gibt man bei YouTube den Namen Xenakis ein, so ist man geneigt, die Frage mit Ja zu beantworten. Man erhält nicht weniger als 1660 Videos mit seinen Werken, und irgendwann bekommt man auch seine Stimme zu hören, unterlegt mit den Klängen einer seiner elektronischen Kompositionen. Ein Xenakis-Fan hat das Video produziert und ins Netz gestellt, jederzeit und überall abrufbar. 26.000 Mal ist es bisher angeklickt worden. Das Gespräch über seine ästhetischen Anschauungen, das der Komponist mit Harry Halbreich geführt hat, wird durch die elektronischen Begleitklänge verunklart und ist obendrein technisch stark komprimiert. So dringt es aus dem Cyberspace wie aus geheimnisvoller Ferne ans Ohr – eine magische Botschaft, deren mediale Präsenz wichtiger erscheint als der Inhalt.
Nun sind alle quantitativen Messungen relativ, besonders was die neue Musik angeht. Im Vergleich mit den vier Millionen Aufrufen, die Carl Orffs „Carmina burana“ bei YouTube verbuchen können, sind die 26.000 Aufrufe des Gesprächs mit Xenakis zwar ein Klacks, aber angesichts der Thematik sind sie nicht zu verachten. Und geradewegs erstaunlich sind die Klickraten beim Orchesterstück „Metastasis“, jenem kühnen Wurf, mit dem Xenakis 1955 seine Komponistenkarriere begründet hat: Das Video wurde bisher fast 230.000 Mal abgerufen. Xenakis ist offenbar auch Pop.
Zum Stichwort „Relativität der Zahlen“ ein kleiner Exkurs. Mit seinen 1660 Videobeiträgen bei YouTube steht Xenakis nämlich ausgezeichnet da. Von den namhaften Komponisten der Nachkriegzeit sind einzig Leute wie Stockhausen oder Ligeti noch gefragter. An der Spitze steht, man höre und staune, John Cage. Er hat 4600 Einträge, also fast soviel wie der Fünftausender Carl Orff. Und noch erstaunlicher: Cages viel zitierte Tacet-Komposition 4’33“ in der Aufführung durch ein amerikanisches Sinfonieorchester hat sage und schreibe 1,7 Millionen Interessenten gefunden. Daneben nehmen sich die im allgemeinen Musikleben so viel gespielten Komponisten wie Henze oder Boulez wie arme Verwandte aus. Relevante Zahlen erzielt Boulez nur als Dirigent, und an der Spitze von Henzes Hitliste stehen die von ihm instrumentierten „Wesendonck-Lieder“ von Wagner mit mageren 35.000 Aufrufen, einem Siebtel der Aufrufe von Xenakis’ „Metastasis“.
Die Zahlen zur Präsenz der zeitgenössischen Musik im Internet sind auf unerwartete Weise aussagekräftig. Populär oder „Pop“ ist im Internet nicht das Approbierte und das Gemäßigt-Moderne, das niemandem weh tut, sondern das technisch Exponierte, mit Vorliebe auch die mit elektronischen Mitteln hergestellte Musik, in der der subjektive Ausdruck einer neuen, technisch vermittelten Objektivität Platz macht. Und in dieser Kategorie ist Xenakis an vorderster Front mit dabei.
Wächst hier ein neues Publikum – für Xenakis und überhaupt für die neue Musik – heran, das sich von dem bisherigen Typus des insiderhaften Neue-Musik-Hörers unterscheidet? Ein Publikum, das durch den Umgang mit den neuen technischen Medien einen spontaneren, von Spezialkenntnissen unbelasteten Zugang zur Musik findet?

Der sinnliche Schock des Hörens

Die unerwartete Popularität, die Xenakis in der Internet-Community genießt, zeigt: Zwischen den auf Mathematik basierenden Klangkonzepten von Xenakis und der Mentalität der heutigen Mediennutzer gibt es Affinitäten - abstraktes Denken und mediale Massenphänomene gehen eine überraschende Verbindung ein. Doch ist das eigentlich verwunderlich bei einem Komponisten, der schon vor einem halben Jahrhundert solche Massenphänomene statistisch berechnet und musikalisch dargestellt hat? Man höre sich nur einmal das Schlagzeugsextett „Perséphassa“ aus dem Jahr 1969 an: aus einem relativ begrnzten Material entsteht gegen den Schluss hin durch Verdichtung und Beschleunigung ein mächtiger Klangwirbel. Die Dynamik dieses Massenprozesses entfaltet sich mit beinahe zwanghafter Logik.
„Der Hörer muss gepackt und, ob er will oder nicht, in den Kreis der Töne gezogen werden, ohne dass er deswegen eine besondere Ausbildung brauchte. Der sinnliche Schock muss ebenso fühlbar sein wie beim Anhören des Donners oder beim Blick in den unendlichen Abgrund“,
schrieb Iannis Xenakis im Programmheft der Uraufführung von „Metastasis“ in Donaueschingen 1955. (zit. nach Häusler 1996, S. 178) Das gilt nicht nur für dieses Stück sondern im Prinzip für alle seine Werke. Doch neben dem, was Xenakis die direkte Einwirkung auf die Sinne und die Fantasie des Hörers nennt, gibt es für ihn in der Musik noch eine zweite, ebenso wichtige Dimension. Er erläutert das am Beispiel von „Metastasis“:
„Dann kommt für den, der es genau wissen will, das Warum der Dinge und die Frage nach dem Wie. Hier verhält es sich mit der Musik genauso wie mit der Physik, der Biologie, der Logik. In dem Bereich mithin, der die zweite Grundvoraussetzung bildet, folgt Metastasis’ der Kombinatorik der zwölf Töne und der sechs temperierten Intervalle, welche mit Skalen von Dauern verbunden sind. Das Werk führt einen neuen Begriff von melodischer Linie ein.“ (Xenakis 1955a, 58)
Das Stück führte bei der Uraufführung 1955 in Donaueschingen zur Verwunderung und Verstörung. Die Kritik reagierte gespalten, aber immerhin nicht durchgehend negativ. So etwas hatte es bis dahin nur punktuell gegeben, etwa in den Sirenenglissandi bei Varèse oder einigen Werken der noch jungen elektronischen Musik. In „Metastasis“ wurde es zum mathematisch basierten Kompositionsprinzip. Xenakis erläutert den „neuen Begriff von melodischer Linie“ so:
„Unter dieser Linie hat man die Hüllkurve von Tangentialglissandi zu verstehen. Durch die Auffächerung der Glissandi im gänzlich solistisch unterteilten Streicherapparat nützt das Stück die Kontinuität des Klangspektrums aus und schafft Klangräume und Klangfelder von variabler Dichte. Damit wird die ‚lineare Kategorie’ des heutigen Musikdenkens gewissermaßen überflutet und durch Flächen und Massen ersetzt.“ (Xenakis 1955a, 59)

Der Krieg als biografische Katastrophe

Der 1922 in der rumänischen Stadt Braila als Sohn griechischer Eltern geborene und 2001 in Paris verstorbene Iannis Xenakis hatte ein bewegtes Leben. Bildungshungriger Schüler und Student, Freiheitskämpfer mit der Waffe in der Hand, politischer Flüchtling und Asylant in Paris, lebensrettende Anstellung als Ingenieur im Architekturbüro Le Corbusier, Durchbruch als Komponist in Donaueschingen und genialer Erfinder neuer, mathematisch basierter Kompositionsverfahren: So könnte man stichwortartig seinen Lebensweg beschreiben.
Zwischen seinem 18. Und 25. Lebensjahr jagt eine existenzielle Katastrophe die andere. 1940, am selben Tag, an dem er sein Studium an der Polytechnischen Hochschule in Athen beginnt, marschieren die Truppen Mussolinis in Griechenland ein. Er schließt sich der kommunistischen Widerstandsbewegung an, kämpft erst gegen die italienische, dann gegen die deutsche Besatzung, und als Ende 1944 die Engländer das Land besetzen, auch noch gegen die britische Armee. Am Neujahrstag 1945 wird er im Straßenkampf von einer britischen Granate lebensgefährlich im Gesicht verletzt. Die Folgen sind eine entstellende Narbe und ein künstliches Auge – der Grund, weshalb auf allen Fotos seine linke Gesichtshälfte stets von der Kamera abgewandt oder in Schatten gehüllt ist. Trotz seiner Behinderung gelingt ihm 1946 sein Examen als Ingenieur. Doch das Desaster geht weiter: Von der rechtsgerichteten griechischen Regierung wird er wegen Landesverrats zum Tod verurteilt und flüchtet über Italien nach Paris, wo er 1947 mit falschem Pass, mittellos und vollkommen desillusioniert eintrifft. Hier nun erfolgt die Rettung: Der weltbekannte Architekt Le Corbusier stellt ihn als Assistenten ein und verschafft ihm dadurch ein bescheidenes Einkommen und wieder existenziellen Boden unter den Füßen.
Parallel zur Arbeit bei Le Corbusier nimmt er Unterricht bei Arthur Honegger und Darius Milhaud, wo er aber nichts lernt, und schaut vergeblich bei Nadia Boulanger vorbei. Erst Messiaen, dessen Kurse er 1952 besucht, erkennt seine Begabung und unterstützt ihn. Er schreibt seine ersten größeren Kompositionen, darunter das Triptychon „Anastenaria“ für Chor und Orchester. Im ersten Teil, der ein uraltes Prozessionsritual aufgreift und dabei den Chorwechselgesang der antiken Tragödie wiederbelebt, gehen konstruktive Strenge und archaischer Ausdruck eine aufregende Verbindung ein.
Der dritte Teil des Triptychons heißt „Metastasis“. Es ist das Werk, das in überarbeiteter Form und als Einzelstück herausgelöst aus dem Zyklus, 1955 in Donaueschingen Xenakis’ Durchbruch als Komponist markieren wird.

Musik und Architektur

Xenakis hatte damals schon fast acht Jahre als angestellter Bauingenieur im Architekturbüro von Le Corbusier in Paris hinter sich. Hier musste er vorwiegend Zulieferarbeiten für die Projekte seines Chef leisten – Arbeiten, die ihn nicht befriedigten, aber seinen Lebensunterhalt garantierten. Doch die insgesamt zwölf Jahre bei Le Corbusier waren für Xenakis eine künstlerisch entscheidende Phase. Als Ingenieur, aus dessen Berechnungen spektakuläre Bauwerke hervorgingen, konnte er zum ersten Mal erfahren, wie der Zusammenhang zwischen abstrakter Gesetzmäßigkeit und konkreter Erscheinung funktioniert. In den Querverbindungen zwischen Mathematik, Architektur und Musik eröffneten sich für ihn neue Perspektiven einer künstlerischen Praxis. In seinem ersten weitgehend selbständig ausgeführten Projekt, dem Kloster La Tourette, schuf er für die Fensterfronten sogenannte „pans de verre ondulatoires“ (wellenförmige Glaswände); Le Corbusier nannte sie auch „verres musicaux“, (musikalische Glasscheiben). Nicht die Fläche selbst ist gekrümmt, sondern die Wellenbewegung entsteht als optischer Effekt: Die Breite der senkrechten, durch dünne Rippen getrennten Scheiben ist unterschiedlich und nach den Proportionen des Modulor, des von Le Corbusier entworfenen Maßsystems, gestaltet; die „Dichte“ der Fenstermenge ist also veränderlich, und für das darüber gleitende Auge entsteht der Eindruck einer Wellenbewegung. Es ist ein genuin rhythmischer Effekt, mit dem Xenakis auch im zeitgleich entstehenden Orchesterwerk „Metastasis“ (1955) operierte.
Ein weiteres Beispiel angewandter Mathematik, das sowohl in „Metastasis“ als auch in den architektonischen Entwürfen von Xenakis zu finden ist, sind die doppelt gekrümmten Oberflächen, die sogenannten hyperbolischen Paraboloiden. Dank neuer Bautechniken mit Eisenbeton konnten sie in der Architektur erstmals in den fünfziger Jahren realisiert werden. Der berühmte Philips-Pavillon bei der Brüsseler Weltausstellung von 1958, der maßgeblich von Xenakis designt wurde, auch wenn Le Corbusier offiziell die Urheberschaft dafür beanspruchte, bezog seinen spektakulären Reiz vor allem aus diesen doppelt gekrümmten Mauerflächen. Solche elegant geschwungenen Formen galten in den fünfziger Jahren als Signum der Moderne und fanden ihre trivialen Ausläufer noch in der ominösen Nierentisch-Ästhetik der damaligen Wohnkultur.
Doch was der Bauingenieur und Architekt Xenakis 1958 für den Philips-Pavillon als Überwindung der einfachen kubischen oder zylindrischen Elementarformen in die Welt setzte, hatte der Musiker Xenakis einige Jahre zuvor schon in „Metastasis“ praktiziert: Die Überwindung von linearem Parameterdenken und festen Tonhöhen durch kontinuierlich sich verändernde Klangereignisse. Den Entwürfen zu „Metastasis“ – Xenakis pflegte zu seinen Kompositionen grafische Vorstudien auf Millimeterpapier anzufertigen – lässt sich entnehmen, dass die Klangkurven im Orchesterwerk aus den gleichen Tangentenbüscheln resultieren, die auch den paraboloiden Kurven des Brüsseler Pavillons zugrunde liegen.
Mit „Metastasis“ wurde Xenakis über Nacht zum international beachteten Komponisten. Das Werk hatte Folgen. Nun wurde plötzlich über Klangwolken, Flächen, Massen und gar Galaxien gesprochen, und nicht mehr bloß über Strukturen, Tonreihen und Tongruppen. Der von den Seriellen zuvor schon diskutierte Aspekt der statistischen Verteilung von Tönen innerhalb eines Feldes erhielt durch die mathematischen Verfahren von Xenakis einen Schub und wurde von den Komponisten auf ganz verschiedene Weise aufgegriffen. Die farbigen Klangflächenkompositionen der polnischen Sonoristen wie Penderecki oder Serocki sind von „Metastasis“ ebenso beeinflusst wie die beweglichen Klangplastiken in einem Stück wie Ligetis „Atmosphères“.

Im Streit mit den Serialisten

Und dann gab es da noch die tonangebenden Serialisten. In ihnen fand Xenakis nach der Uraufführung von „Metastasis“ zuverlässige Feinde. Für sie war er der Außenseiter, der sich anmaßte, in das sorgsam abgeschirmte Gehege der musikalischen Avantgarde einzubrechen, und das mit mathematisch-wissenschaftlichen Konzepten, die das bis dahin als Nonplusultra des Fortschritts gefeierte Reihendenken als Ausdruck eines Handwerkerbewusstseins aus der mechanistischen Ära erscheinen ließen. Heute würde man von analogen Basteleien sprechen. In Xenakis’ Musikdenken kündigte sich dagegen bereits der Geist des kommenden Computerzeitalters an. Die jahrzehntelange, für den Einzelgänger Xenakis nachteilige Konkurrenz zum mächtigen Pierre Boulez, der über die institutionellen Ressourcen in Paris verfügte, hat hier ihren Ursprung.
Mit Kritik am Serialismus hielt Xenakis nie zurück.
Schon 1955, im Jahr der Uraufführung von „Metastasis“, stellt er in den von Hermann Scherchen herausgegebenen „Gravesaner Blättern“ die serielle Doktrin fundamental in Frage. In seinem Aufsatz unter dem Titel „Die Krise der seriellen Musik“ (Xenakis 1955b, 3ff.) beschäftigt er sich mit den Widersprüchen des Parameterdenkens. Er kritisiert die Begrenzung des Tonmaterials auf die zwölf Töne der chromatischen Tonleiter und stellt eine Reihe provokanter Fragen:
„In der Elektronik wäre es absurd, lediglich in Vielfachen von Frequenzzahlen zu denken. Weshalb zwölf und nicht dreizehn oder gar n Töne? Weshalb nicht eine Kontinuität des Frequenzspektrums? Des Klangfarbenspektrums? Des intensitäts- und Dauernspektrums?“
Und mit leicht süffisantem Unterton prophezeit er, dass die Musik notwendigerweise eine ganz andere Entwicklung nehmen werde als es sich die Reihenzähler vorstellen:
„Lassen wir die Frage der Kontinuität einstweilen beiseite – sie wird ohnehin in nächster Zeit innerhalb der musikalischen Forschung das Pendant zur Doppelnatur von Welle und Korpuskel der Materie bilden.“
Zum Verfahren der Seriellen, die Parameter Tonhöhe, Dauer, Lautstärke und womöglich auch Klangfarben in Reihen zu ordnen und damit eine hörend nicht mehr nachvollziehbare Polyphonie der Ereignisse zu schaffen, bemerkt Xenakis:
„Die lineare Polyphonie zerstört sich selbst durch die Komplexität, die ihr gegenwärtig eigen ist. Was man beim Hören wahrnimmt, ist im Grunde genommen nichts anderes als eine Anhäufung von Tönen in vielfältigen Registern. Diese ungeheure Komplexität verhindert den hörenden Nachvollzug der verwickelten Linien und zeitigt als makroskopischen Effekt eine irrationale, zufällige Streuung der Töne im  gesamten Tonspektrum.“
Xenakis’ Kritik am Serialismus ist derjenigen von John Cage ähnlich. Beide konstatierten, dass das hoch entwickelte polyphone Denken in Parametern zu Klangresultaten führt, die nur noch aus amorphen Tonmassen bestehen. Doch Xenakis zog andere Konsequenzen als Cage: Während dieser die Töne in die anarchische Freiheit der Zufallsoperationen entließ, suchte Xenakis nach neuen Konstruktionsprinzipien, um die Töne als Tonmassen zu organisieren. Damit sollte der Grundwiderspruch des Serialismus – das Auseinanderklaffen von Strukturlogik und Klangerscheinung – überwunden werden.
„Dieser der Polyphonie inhärente Widerspruch wird erst aufgelöst werden, wenn die Unabhängigkeit der Töne untereinander absolut sein wird. Was wirklich zählen wird (...), ist der statistische Mittelwert der isoliert betrachteten Transformationszustände der Komponenten zu einem bestimmten Zeitpunkt. Der makroskopische Effekt wird somit über den Mittelwert der Bewegung von n ausgewählten Objekten kontrolliert werden müssen.“
Xenakis folgerte: Um diese Kontrolle über die Objekte innerhalb eines Klangprozesses zu gewährleisten, müssen die Verfahren der Wahrscheinlichkeit und der mathematischen Kombinatorik in das Komponieren eingeführt werden. Damit war die Richtung vorgegeben, in der sich die in „Metastasis“ angewandten Prinzipien weiterentwickeln sollten. Im Orchesterstück „Pithoprakta“, komponiert 1956, ein Jahr nach der Uraufführung von „Metastasis“, hat Xenakis seine Methoden verfeinert. Es gehört zur frühen Gruppe der Werke, die nach freien stochastischen Methoden gearbeitet sind.
Der Sammelbegriff „Stochastik“ umfasst in der Mathematik alles, was mit Wahrscheinlichkeitsrechnung zu tun hat; Xenakis übertrug ihn auf das Komponieren und bezog ihn auf die Methoden der Organisation großer Klangmassen:
„Die Überwindung der Beschränkungen des linearen Denkens und die Kontrolle der kontinuierlich sich verändernden Klangkomponenten können erreicht werden durch eine umfassendere Art von Musik – eine „stochastischen Musik“, die auf der Verwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung beruht, unter Einführung einer ganzen Reihe von mathematischen Funktionen.“ (Baltensperger 1996, 570)
In seinem Konzept einer stochastischen Musik sah Xenakis einen zukunftsträchtigen Ausweg aus der Sackgasse des Serialismus:
„Wenn die von den Neoseriellen so hoch gepriesene, deterministische Kausalität in der Musik aus Gründen der Komplexität verloren ging, so musste man sie ersetzen durch eine allgemeinere Kausalität – durch eine Wahrscheinlichkeitslogik, die die strenge serielle Logik nur noch als einen Spezialfall in sich enthält. Da sind wir nun bei der Stochastik. Die Stochastik untersucht und formuliert die Gesetze der großen Zahl ebenso wie diejenigen, die für Einzelereignisse und für die verschiedenen aleatorische Prozesse usw. gelten. Auf diese Weise ist also, ausgehend unter anderem von der Einsicht in die Ausweglosigkeit des Serialismus, 1954 eine Musik geboren worden, die auf dem Prinzip der Unbestimmtheit beruht und die ich zwei Jahre später ‚Stochastische Musik’ getauft habe. Die Gesetze der Wahrscheinlichkeitsrechnung sind aus musikalischer Notwendigkeit in die Komposition eingedrungen.“ (Baltensperger 1996, 572)

Formalized Music

In den späten fünfziger Jahren werden die Methoden der stochastischen Musik von Xenakis kontinuierlich verfeinert und formalisiert. Er nimmt nun auch den Computer zu Hilfe, der in jenen Jahren seinen Siegeszug in Wirtschaft und Wissenschaft antritt, und zu Beginn der sechziger Jahre entsteht das, was er „Musique formelle“ nennt: eine vollständig auf mathematischen Formeln beruhende Kompositionsweise.  Darin stellen die Formeln eine Art genetischen Code dar, aus dem im Prinzip unendliche viele musikalische Lebewesen, das heißt Kompositionen, geschaffen werden können.
1962 arbeitet Xenakis mit Hilfe des Fortran-Computers eine Serie von sieben Kompositionen aus, die alle auf dem gleichen Programm basieren, aber von ganz unterschiedlicher Erscheinungsform sind. Die Genese aus einem gemeinsamen Programm ist den Stücken – bei allen Unterschieden in Besetzung und Klangfarbe – anzuhören: Sie haben alle ein gleichermaßen abstraktes Klangbild.
Zum Beispiel die Komposition „ST/48-1“. Ihr Titel klingt selbst wie ein Teil einer mathematischen Formel, ist aber leicht zu entschlüsseln: ST bedeutet „stochastisch“, 48 bezeichnet die Zahl der Spieler – es handelt sich also um ein Orchesterstück – und die angehängte 1 bedeutet, dass es die erste Version für diese Besetzung ist. Als Ergänzung ist dem Titel noch das Datum der Programmierung als sechsstellige Ziffernfolge angefügt.
Xenakis entfernt sich hier weit von jeder sprachähnlichen Gestik; der Klang ist Ausdruck eines von sinnlichen Vorstellungen gereinigten, mathematischen Denkens. Trotzdem – und das ist eine generelle Eigenschaft seiner Musik – öffnen diese Klänge weite Räume für Assoziationen und Emotionen jeder Art. Sie setzen die innere Vorstellungskraft auf ungeahnte Weise in Gang.
In der Reihe der „ST“-Stücke aus dem Jahr 1962 führt Xenakis seine mathematische Methode auf  ähnliche Weise bis an die Grenzen, wie es Pierre Boulez genau zehn Jahre zuvor im ersten Band der „Structures“ mit den seriellen Verfahren praktiziert hat. Die Musik ist frei von allen vertrauten Ausdrucksgesten und hat eine strikt objektive Haltung, bedingt durch das konsequent umgesetzte mathematische Programm, das im Hintergrund wirkt. Ausdruckslos kann man sie aber trotzdem nicht nennen. Der Affekt spielte für Xenakis stets eine wichtige Rolle, wie er bereits in seinem Kommentar zu „Metastasis“ bekannte, als er schrieb, der sinnliche Schock müsse „ebenso fühlbar sein wie beim Anhören des Donners oder beim Blick in den unendlichen Abgrund“.
Zu den „ST“-Stücken von 1962 gehören neben der Komposition für 48 Spieler auch das Ensemblestück „ST/10“ für zehn Interpreten und die „ST/4“, eine Streichquartettversion.
1971 veröffentlichte Xenakis sein Buch „Formalized Music“, in dem er die Prinzipien seiner stochastischen Kompositionsweise erläuterte. In musikalischen Fachkreisen wird es kaum diskutiert, enthält es doch seitenweise mathematische Formeln und ist nur für Leser verständlich, die auch mit der höheren Mathematik vertraut sind. Auch das Programm, das den ST-Kompositionen zugrunde liegt, ist darin abgedruckt. Die Flussdiagramme, in denen die vom Computer abzuarbeitenden logischen Prozesse beschrieben sind, erstrecken sich über nicht weniger als neun Buchseiten.
Man hat Xenakis verschiedentlich vorgeworfen, seine mathematischen Konzeptionen nähmen keine Rücksicht auf das Hören. Doch bei aller Tendenz zum abstrakten Denken vergaß er nie den Bezug zur Wahrnehmung. In einem bei den Darmstädter Ferienkursen 1974 aufgezeichneten Vortrag (Xenakis 1974) kommt er auf diese Frage zu sprechen. Er erklärt, dass die Instrumente des Verstands oft feiner sein können als die Wahrnehmung, und stellt fest: Man hat das Recht, alle Arten von Theorie zu verwenden, vorausgesetzt, dass damit die Herrschaft über die Gegenstände erweitern wird. Aber man soll nicht vergessen, dass man am Schluss „auf die Füße fallen muss“, wie er das nennt, und das heißt: Das Gedachte muss sich auf wahrnehmbar Dinge beziehen können, sonst verlässt man den Bereich der Musik und betreibt Physik, Mathematik oder was auch immer. In der Aufnahme zeigt sich Xenakis als scharfsinniger Analytiker, der das Problem exakt, aber stets in freundlichem Tonfall zu beschreiben versteht und dabei seine französischen Erläuterungen immer auch gleich ins Englische übersetzt.

Der unausrottbare subjektive Rest

Mit ihrer rigiden Formalisierung markieren die stochastischen Stücke des Jahres 1962 einen Extrempunkt in Xenakis’ Erforschung der Berührungslinien zwischen Musik und Mathematik. In den späteren Werken sollte er wieder vermehrt Aspekte der Wahrnehmung und der Formgestaltung in seine kompositorischen Überlegungen einbeziehen. Im Cellostück „Kottos“ von 1977 wirkt zum Beispiel der Parameter Rhythmus streckenweise wie eingefroren, während die Akkordstrukturen einem permanenten, hoch virtuosen Wechsel unterworfen sind. Oder, als zweites Beispiel, das 1984 in London uraufgeführte Ensemblestück „Thallein“: Hier operiert Xenakis mit längeren Formzusammenhängen, mit harmonisch kompakteren Klangereignissen und vereinzelt auch mit melodischen Gestalten.
Den Automatismen der Rechenprogramme hat sich Xenakis aber auch in seinen rücksichtslos durchkalkulierten Werken nie vollkommen ausgeliefert. Spontane Korrekturen aus der Perspektive der sinnlichen Wahrnehmung behielt er sich stets vor. In den abstrakten Strukturen ist ohnehin mehr an Realitätsbezug enthalten, als man es sich im Schock des ersten Hörens vorzustellen vermag. Das gilt auch für die zahlreichen elektroakustischen Kompositionen. Einige sind als Soundtrack zu Filmen entstanden, andere als Teil von multimedialen Experimenten und Raumklangkompositionen mit szenisch-dramatischen Komponenten; in diesem Zusammenhang entfalten sie eine besonders suggestive Wirkung. Viele dieser Projekte hatten einen genuin experimentellen Charakter; es waren einmalige Aufführungen, die an einen bestimmten Ort gebunden und nicht wiederholbar waren. So etwa der Werkkomplex der „Polytopen“: „Polytope de Persépolis“, uraufgeführt 1971 in den Ruinen von Persepolis, oder „Polytope de Cluny“, eingerichtet in Paris in den Räumen eines alten römischen Bades mit tonnenförmigem Gewölbe.
Diese dynamische Klangraum-Installation, eine Produktion des Festival d’Automne à Paris, wurde in den Jahren 1972-74 von annähernd hunderttausend Personen besucht, die sich frei im Raum bewegen konnten. Die sieben Tonbandkanäle waren gekoppelt mit einem computergesteuerten Lichtspektakel, bei dem – damals noch eine Seltenheit – Laserstrahlen zum Einsatz kamen, die in hundert, teilweise beweglichen Spiegeln gebrochen und vervielfältigt wurden. Das Programm zur Synchronisierung aller Elemente des audiovisuellen Gesamtkunstwerks bestand aus über 43 Millionen Computerbefehlen. Von der aufsehenerregenden Produktion des „Polytope de Cluny“ sind nur das Tonband und eine Reihe von beschreibenden Dokumenten und Fotos übriggeblieben.

Vorsokratische Philosophie und Gegenwartsbezug

Der Weltbezug in der Musik von Xenakis ist umfassend und geht über die sinnliche Wahrnehmung weit hinaus. Die Mathematik ist für ihn das Mittel, diese entfernteren Bezirke in der menschlichen Vorstellungswelt zu erschließen. Darin bezieht er sich auf die vorsokratischen Denker, die auch schon versuchten, auf der Basis der Zahl ein umfassendes Weltbild zu konstruieren, und die Überlegungen zum Zeitbegriff anstellten, die bis heute aktuell sind. Zum Beispiel die Verschränkung der Dimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Bei den alten Griechen gibt es für diese Vorstellung den Begriff „Eonta“, das Seiende.
„Eonta“ heißt auch eine Komposition von Xenakis für Klavier, zwei Trompeten  und drei Posaunen von 1963. Er bezieht sich mit diesem Titel bezieht auf den vorsokratischen Philosophen Parmenides, für den die wirkliche Welt, das Seiende, ein unveränderliches, unzerstörbares Ganzes darstellte. In „Eonta“ verbindet Xenakis unterschiedliche Zeitströme mit der Ausweitung des Klangs in den Raum, indem er die Blechbäser unterschiedliche Positionen einnehmen lässt.
Schon als Jugendlicher hatte sich Xenakis mit der Philosophie des antiken Griechenland befasst, ebenso mit der Musik, soweit sie heute überhaupt noch rekonstruierbar ist. Das Studium der altgriechischen Tetrachorde und ihrer mikrointervallischen Skalen bildete einen Ausgangspunkt für seine spätere Kritik des zwölftönigen chromatischen Systems und sein Gegenmodell der kontinuierlich veränderlichen Tonhöhen. Sein Bildungshintergrund war ganz anders als der seiner westeuropäischen Kollegen. In die europäische Avantgarde, die in den ersten Nachkriegsjahrzehnten noch hauptsächlich eine westeuropäische Angelegenheit war, trug Xenakis somit Elemente eines anderen Musikverständnisses hinein, das in den Traditionen des östlichen Mittelmeerraums und der griechischen Antike wurzelte. Wie aktuell für ihn diese Traditionen immer noch waren, zeigt sich bereits in seinen Studentenjahren, als er sich als politisch engagierter Student an den Massendemonstrationen in den Straßen Athens beteiligte. Damals schwebte ihm sogar eine Verbindung von philosophischer Theorie mit politischer Praxis vor:
„Es war ein sehr interessantes Leben für mich, weil ich mit marxistischen Taktiken oder revolutionären Vorstellungen von Massenpropaganda platonische Ideen in die Praxis umsetzen konnte – zumindest hatte ich damals diesen Eindruck.“ (Matossian 2005, 31)
Der Schweizer Musikologe André Baltensperger erwähnt in seiner grundlegenden Abhandlung über Xenakis Äußerungen des Komponisten, die über diese philosophische Spekulation hinaus einen anderen, oft zu wenig beachteten Realitätsbezug in seinem musikalischen Denken offenlegen. Das Erlebnis der sich in Tumult und Chaos auflösenden Massendemonstrationen in Athen hatte sich Xenakis derart eingeprägt, dass es sich seinen Werken als Paradigma für die Darstellung von klanglichen Massenbewegungen einbrannte. Wie die Kriegswunde hat es ihn sein Leben lang begleitet. Doch es war mehr als eine Erinnerung an Krieg und Tod. Es gab ihm auch ein Mittel in die Hand, die Musik der Zukunft zu schaffen.
© 2011 Max Nyffeler
Der Text basiert auf einer Sendung im Bayerischen Rundfunk (Bayern 4 Klassik) vom 5.2.2011.

Quellen

Baltensperger, André (1996). Xenakis und die Stochastische Musik. Komposition im Spannungsfeld von Architektur und Mathematik. Bern: Paul Haupt.
Häusler, Josef (1996). Spiegel der Neuen Musik: Donaueschingen. Kassel: Bärenreiter und Stuttgart: Metzler.
Matossian, Nouritza (2005). Xenakis. Leifkosia: Moufflon Publications (übs. durch den Autor)
Xenakis, Jannis (1955a). Werkkommentar zu „Metastasis“ im Programmheft der Donaueschinger Musiktage 1955. Zit. nach: Begleitheft zur 4CD-Kassette Donaueschinger Musiktage 1950-90, Col legno AU-031800 CD)
Xenakis, Iannis (1955b). La crise de la musique sérielle. In: Hermann Scherchen (Hrsg.), Gravesaner Blätter, Heft 1 (übs. durch den Autor).
Xenakis, Iannis (1974). Vortragsreihe bei den Darmstädter Ferienkursen 1974, Vortrag 1. Frankfurt: Deutsches Rundfunkarchiv, DRA Nr. B007214054 (freie Rede ohne Manuskript).

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